#



Ich heiße Miriam und bin passionierte Weltenbummlerin. Wenn ich nicht gerade auf Reisen bin, findet man mich in Deutschland. Mein Heimatland ist meine Base, aber mein Zuhause ist die Welt. Von dieser versuche ich so viel wie möglich kennenzulernen. Sie ist so voller Geschichten und Abenteuer, dass ich gar nicht genug bekommen kann!

Bücher




Link zum Kauf des Buches: Thalia

Leseprobe

Kapitel: Versag’ keine Wohltat dem, der sie braucht

An diesem Morgen klingelte mein Wecker bereits um 6.30 Uhr, denn bei Wanderungen durch den Regenwald des Cát-Tiên-Nationalparks wurde dazu geraten, früh aufzubrechen, besonders wenn man dazu neigte, sich zu verirren. Ich hatte eine große Wanderung geplant, für die ein ganzer Tag vorgesehen war. Meine Vorfreude war riesengroß! Dass es dazu jedoch nicht kommen würde, wusste ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht.


Aufgeregt öffnete ich die Tür meines Bungalows und blickte auf den Đồng-Nai-Fluss. Auf seiner gegenüberliegenden Seite vernahm ich Affen, die mit ihrem lauten Konzert längst zugange waren und mich wie auf magische Art riefen.
Mit gepacktem Tagesrucksack begab ich mich zum Frühstücksbereich der Lodge, um mich für die geplante Wanderung zu stärken. Dabei bemerkte ich, wie die Mitarbeiter und zwei Gäste im Halbkreis zusammenstanden und auf den Boden schauten. Verwundert, was es da so Interessantes zu sehen gab, ging ich zu ihnen und blickte über ihre Schultern. Dabei entdeckte ich eine kleine Eule, die mich mit ihren großen Augen ins Visier nahm.
Während die Gäste von diesem niedlichen Geschöpf schwärmten, legte ich dar, dass es nicht normal sei, eine nachtaktive Vogelart bei Helligkeit in der Umgebung von Menschen zu sehen, noch dazu auf dem Boden sitzend. Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, versuchte sich das kleine Tier hüpfend von uns wegzubewegen, und allen wurde bewusst, dass es nicht mehr fliegen konnte.
Auf diese traurige Erkenntnis hin gab jeder einen Seufzer von sich und bewegte sich von der Eule weg. Da rief ich ihnen fragend hinterher – fassungslos über diese Untätigkeit –, was wir denn nun tun könnten? Offenbar tat die verletzte Eule allen leid, aber keiner wollte etwas unternehmen. Die Last blieb an mir hängen. Gerade an mir, wo ich bei Tieren doch sowieso so zerbrechlich bin.
Irgendjemand musste aber etwas tun! Man konnte die Eule doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. So änderte ich – ohne auch nur einen Moment zu zögern – meinen Tagesplan und bat den Vietnamesen Chanh, mir mitzuteilen, wo die nächste Tierrettungsstation sei. Dazu müsse ich den Fluss überqueren, erklärte er mir. Er würde mich auf seinem Roller zu der Stelle bringen, wo das Boot abfahre.
Ich wusste nicht, wie wir ein verletztes Tier auf einem Roller transportieren sollten, ohne dass es dabei hin- und hergeschleudert wurde, aber was blieb mir übrig? Zum Glück waren Chanh und seine Kollegin keine so zaghaften Gemüter wie ich. Sie schnappten die Eule mit den Händen – Hochachtung an dieser Stelle – und versuchten, sie in einen Pappkarton zu setzen. Dabei wehrte sich das Tier so sehr, dass es sich in die Finger von Chanhs Kollegin krallte, die daraufhin laut aufschrie. Die Krallen der Eule waren so scharf, dass die blutende Hand verbunden werden musste.
Trotz dieses Vorfalls beschwerte sich die Kollegin nicht über die Reaktion der Eule. Sie wollte wohl auch nur, dass es ihr bald wieder besser ging.
Auf Chanhs Roller platzierten wir den Pappkarton im Fußraum. Ich war voll Sorge um das arme Tier, musste mich auf dem Rücksitz hinter Chanh aber gedulden, bis wir die Bootsanlegestelle erreichten. Die Straße dorthin war ruckelig und die Eule wusste nicht, was um sie herum geschah.
Am Fluss angelangt, musste ich mich erneut gedulden, denn das Boot war noch nicht da. Chanh kehrte derweil wieder um, und ich öffnete in der Zwischenzeit den Deckel des Pappkartons, damit die Eule hinausschauen konnte. Das Rascheln erregte bei einer vietnamesischen Familie, die ebenfalls auf die andere Seite des Flusses wollte, große Aufmerksamkeit.
Als sich die Kinder zusammen mit Mutter und Vater näherten, um zu schauen, was sich in der geheimnisvollen Schachtel befand, schloss ich den Deckel ein kleines bisschen. Ich wollte die Eule auf keinen Fall noch mehr Stress aussetzen, als sie ohnehin schon hatte. Erst, als ich mir sicher sein konnte, dass die Kinder nicht hektisch reagierten, zeigte ich ihnen das süße Wesen. Alle vier waren gerührt und wünschten sich, dass es der Eule bald besser ginge.
Nachdem das Boot angelegt hatte, ging der Mann der Familie voraus und streckte mir von dem Boot aus seine Hand zu. Er wollte nicht, dass dem kleinen Patienten bei der wackeligen Angelegenheit etwas passierte.
Die Überfahrt dauerte nur fünf Minuten. Gott sei Dank war es bis zum nächsten Gebäude nicht weit, eine Tierrettungsstation konnte ich allerdings nicht sehen. In dem Gebäude saß aber ein Vietnamese, der von dieser wusste. Sofort nahm er den Hörer seines Telefons in die Hand und versuchte, jemanden zu erreichen. Während des Wählvorgangs teilte er mir mit gebrochenem Englisch mit, dass ich den Karton abstellen könne. Jemand würde kommen und ihn abholen.
Auf mein Zögern hin wiederholte er, dass ich wirklich gehen könne, man würde sich um die Eule kümmern. Ich aber schüttelte den Kopf und sagte, dass ich so lang bleiben würde, bis jemand von der Rettungsstation käme!
Eine halbe Stunde wartete ich, während die Eule in dem Karton hin und her hüpfte und sich vor Angst schon den Darm entleert hatte. Immer wieder redete ich ihr zu, dass ich auf sie aufpassen würde und es ihr bald besser ginge. Ich bin keine Tierärztin und wusste nicht, was ich für das kleine Tier noch mehr hätte tun können, doch das Letzte, was ich getan hätte, wäre aufzugeben.
Als endlich jemand von der Tierrettungsstation kam, war ich zutiefst erleichtert. Nun würde man der Eule helfen! Dass der Mann sogar ein klein wenig Englisch sprach, besänftigte mich noch mehr. Diesem Fremden jedoch mir nichts dir nichts meinen Schützling zu übergeben, kam nicht infrage. Er hatte gewiss mehr Ahnung von verletzten Tieren als ich, doch ich fühlte mich verantwortlich. Weil ich die Eule beschützen wollte, gab ich ihm die Anweisung, den Karton auf keinen Fall ruckartig hochzuheben.
Das hätte ich mir wahrlich sparen können, der Mann wusste genau, was er tat. Ganz behutsam nahm er den Karton an sich und lief damit in sanften Schritten los, während ich ihm wie eine Ente hinterherwatschelte. Ich wollte die Eule unter keinen Umständen aus den Augen lassen und begleitete ihn.
Bei der Tierrettungsstation angelangt, konnte ich meine Freude kaum fassen! Ich las das Schild am Eingang und war in jenem Moment den Tränen nahe. Schon seit vielen Jahren spendete ich Monat für Monat zehn Prozent meines Gehalts an gemeinnützige Organisationen. Eine davon nennt sich »Free the Bears«¹, und genau bei der war ich gelandet – völlig unerwartet, irgendwo mitten in Vietnam.
Dass man sich bei »Free the Bears« auch um andere Tierarten kümmert, war mir nicht bewusst. Offensichtlich nahm man sich vor Ort vielen Notfällen an – die Eule war nicht das einzige Tier, das Schmerzen erlitten hatte.
Zusammen mit dem Mann ging ich in einen Raum, wo er den Karton vorsichtig auf dem Boden platzierte. Anschließend verschwand er, um Handschuhe und Spritzen zu besorgen. Während ich wartete, blickte ich mich um. Ich war umgeben von lauter Geschöpfen, die mich neugierig beäugten. Unter ihnen war ein Otter, der von seinem Außengehege hereingekommen war und sich an den Stäben seines Käfigs hochgezogen hatte, um zu schauen, was sich in dem mysteriösen Karton befand.
Als er die kranke Eule sah, fragte ich ihn ablenkend: »Na, wer bist du denn?« Da fing der Otter wie aus heiterem Himmel an, laute Geräusche von sich zu geben, so als wolle er mir erzählen, was ihm zugestoßen sei. Während seiner Erläuterung steckte er mehrmals seine linke Pfote in sein Maul und quiekte.
Als der Mann zurückkam, erklärte er mir, dass der Otter an seiner linken Pfote verletzt sei und so lang vor Ort bleiben müsse, bis er wieder richtig laufen könne.
Unterdessen nahm dieser herzensgute Mensch die Eule zusammen mit einem anderen Pfleger aus dem Karton und holte eine Spritze aus seinem Kasten. In diesem Augenblick schaute ich weg. Ich hatte der Eule versichert, sie zu beschützen, und nun würde man ihr wehtun. Leider endete ihre Geschichte ohne Happy End. Sie hat es nicht geschafft ...
Unter normalen Umständen wäre ich in Tränen ausgebrochen. Mein Herz hätte bluten müssen, doch ich vergoss keine Träne. Dieser Ort strahlte so viel Frieden aus, dass ich die tiefe Gewissheit hatte, die Eule an keinem besseren hätte gehen lassen können: in den Händen von guten Menschen, die sich tagtäglich für Tiere aufopferten.
Die Eule wäre ohne menschliche Hilfe langsam und qualvoll verendet, doch so starb sie einen schnellen Tod, der sie von ihren Schmerzen erlöste. Ihre Lunge war schon in dem Moment voller Blut gewesen, als ich sie in die Hände des Mannes übergeben hatte. Sie hatte einfach keine Chance.
Obgleich ich trotz dieses traurigen Ausgangs einen inneren Frieden verspürte, benötigte ich Zeit, um alles zu verarbeiten. Ich hatte viele Stunden mit der Eule verbracht, war unter großer Anspannung gewesen, wollte mich um sie kümmern – und jetzt war sie tot. Der Vietnamese sah mir an, dass mich das beschäftigte, und bot mir rücksichtsvoll an, die geretteten Bären zu beobachten. Das würde mich sicher auf andere Gedanken bringen.
Ich nahm sein Angebot an, begab mich zu einem großen Außenbereich und sah auf einmal direkt vor meinen Augen, in welches Projekt ich lange Zeit mein Geld investiert hatte. Wie der Name schon sagt, setzt sich die Organisation »Free the Bears« primär für Bären ein. Immer, wenn es die Spenden zulassen, werden Bären aus grausamen Verhältnissen gerettet. Man konnte und wollte sich gar nicht ausmalen, zu welchen Gräueltaten Menschen imstande waren. Fast ihr gesamtes Dasein waren viele dieser kuscheligen Riesen in Käfigen eingesperrt, hauptsächlich aufgrund ihres »wertvollen« Gallensafts, den man ihnen zur Herstellung traditioneller Medizin abzapfte.
Wenn die Helfer bei einem eingesperrten Bären ankamen, versuchten sie diesen zunächst mit Futter aus seinem Gefängnis zu locken. Anschließend wurde das Tier in einer Transportbox mit gemeinsamen Kräften auf einen Pick-up geladen und zu seinem neuen Zuhause gebracht – an den Ort, an dem ich mich befand.
Dort brauchten die meisten Neuankömmlinge erst einmal eine Weile, um ihre neue Umgebung kennenzulernen. Viele von ihnen kamen zum ersten Mal in ihrem Leben mit Gras in Berührung.
Wenn es genug Spenden gab, bauten ihnen die Mitarbeiter und freiwilligen Helfer Klettergerüste, Hängematten oder Wasserbecken. Viele der Bären hatten nie zuvor Kontakt zu Artgenossen gehabt. Nach einer Eingewöhnungsphase durften sie sich an diese herantasten, mit ihnen spielen und kuscheln, und lernen, was es bedeutete, ein Bär zu sein.
Da ich mich über die geretteten Bären und ihren Zustand schon lange vor diesem Tag schlaugemacht hatte, wusste ich, was sie durchgemacht hatten. Dass ihre Außengehege in der Rettungsstation des Cát-Tiên-Nationalparks nicht sehr viel größer waren als in manchen Zoos in Deutschland, schreckte mich nicht ab. Ich wusste, welch große Freiheit sie dort verspürten. Einige Kilometer weiter wurde außerdem an einem noch sehr viel weitläufigeren Gehege gebaut, und das gab Hoffnung.
Die Menschen von »Free the Bears« stecken all ihr Herzblut in das Wohl der Tiere und können ihnen eben nicht mehr bieten als das, was finanziell zu stemmen ist. Die Organisation kann nicht gleichzeitig Bären retten und größere Areale schaffen. Dazu fehlen schlichtweg die Mittel, was mich an dieser Stelle dazu animiert, alle Leser da draußen um Hilfe zu bitten. Wenn nicht wir einen Teil dazu beitragen, dass diese Bären gerettet werden, wer dann?
Sie brauchen spezielle Betreuung. Nicht alle Bären können am Ende wieder ausgewildert werden. Dafür sind sie meist zu traumatisiert. Doch sie haben bei dieser Organisation einen sicheren Platz für den Rest ihres Lebens, an dem sie von ihren Pflegern geliebt werden. Diese dankbaren Lebewesen erfreuen sich an den kleinsten Dingen. Etwas Leckeres zu fressen, ein erfrischendes Bad in der Mittagshitze oder einfach nur die Anwesenheit anderer Mondbären. Ihren Namen tragen sie aufgrund der hellen Sichelform auf ihrer Brust². Sie sind wahre Schönheiten! Wie nur können Menschen sie so quälen?
Als ich zu dem ersten Freigehege kam, in dem ein Mondbär gerade auf dem Gras liegend all seine Tatzen von sich streckte, ging mir das Herz auf. Zugleich konnte ich ihm ansehen, dass er noch nicht lang in dieser Rettungsstation war. Allein, sich aufzurichten, kostete ihn sehr viel Kraft.
›Liebes Bärchen, du wirst es mit der Zeit schon schaffen, deine Muskeln aufzubauen! Hab nur Geduld!‹, hätte ich ihn am liebsten auf Bärisch ermutigt.
Sein Kraftakt, sich zu erheben, war überaus lohnend. Er hatte ein tolles Ziel vor Augen: ein erfrischendes, von Helfern gebautes Wasserbecken in etwa fünfzig Metern Entfernung. Mit langsamen Schritten folgte ich ihm entlang des Zauns. Dabei schnaufte er kräftig, hatte offensichtlich zu kämpfen – bis er schließlich an dem Becken ankam und sich fröhlich hineingleiten ließ, mit der Schnauze voran: »Ahoi, ich komme!«
Den nassen Kopf aus dem Wasser streckend, gab er ein letztes erleichtertes Schnaufen von sich, und plötzlich wurde er still. Das Wasserbad tat ihm gut.
Ich blieb noch einige Minuten, nur um ihm dabei zuzuschauen, wie er sich entspannt treiben ließ. Meine innere Glückseligkeit darüber, dass dieses Tier nie mehr durch Menschenhand leiden würde, konnte ich nicht annähernd in Worte fassen.
Später ging ich noch ein Stück weiter. Völlig unerwartet sichtete ich dabei ein paar äußerst aktive Gibbons – eine in Vietnam heimische Affenart –, die der Cát-Tiên-Nationalpark in seiner Obhut hatte. Nach ihrer Genesung wurden die Gibbons wieder ausgewildert, denn es handelte sich bei ihnen um keine traumatisierten Tiere. Sie hatten sich lediglich verletzt und lebten zuvor nicht – wie die Bären – in Gefangenschaft. Sie blieben nur vorübergehend in den Gehegen, wo man ihnen extra Klettergerüste angebracht hatte, die sie zu gerne nutzten, um wieder fit zu werden.
Etwas verwirrt war ich, als es oben in den Baumkronen plötzlich raschelte. Zwei frei lebende Gibbons schwangen sich von Ast zu Ast und ließen sich auf einem der Gehege nieder. Es hatte den Anschein, als wollten sie ihre verletzten Freunde besuchen, denn diese kamen daraufhin direkt die Gitterstäbe hinauf und begrüßten sie.
Dieses Bild von geretteten Affen, die sich erholen mussten, und jenen, die frei waren und nur darauf warteten, ihre Freunde bald wieder außerhalb der Käfige bei sich zu haben, berührte mich unfassbar.
Obwohl ich erschöpft war, wanderte ich nach diesem Erlebnis noch vier Stunden durch den Regenwald. Darin sah ich bunt strahlende Vögel, jede Menge Eidechsen, Spinnen in kompliziert gebauten Netzen und sogar eine Schlange.
Währenddessen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Mein positives Gefühl, dass ich der Eule etwas Gutes getan hatte, verwandelte sich allmählich in ein schlechtes. Ein Gedanke ließ mich einfach nicht los: Hatte ich sie in den Tod geführt? Ich hatte ihr doch versprochen, dass es ihr bald wieder besser ginge!
Schweißgebadet und verdreckt lief ich zurück zu meiner Lodge. Dort nahm ich eine Dusche, um alles von mir abzuwaschen. Anschließend fragte ich Gott, ob ich einen Fehler begangen hatte. Ich war auf einmal so voll Zweifel.
Im selben Augenblick hatte ich den Eindruck, ich solle mir einen Bibelvers ziehen. Im Internet gibt es eine Website³, die durch das Drücken eines Buttons per »Zufall« einen Bibelvers auswählt. Nachdem ich das getan hatte, erschien von 31.171 Bibelversen der folgende: Versag keine Wohltat dem, der sie braucht, wenn es in deiner Hand liegt, Gutes zu tun.

Fußnoten:
¹ Befreit die Bären, www.freethebears.org
² Auch Kragenbär, Asiatischer Schwarzbär oder Tibetbär, Ursus thibetanus. Siehe auch de.wikipedia.org/wiki/Kragenb%C3%A4r.
³ www.k-l-j.de/bibelstelle.htm







Link zum Kauf des Buches: Thalia

Leseprobe

Kapitel: Wo ist Azulin?

Der neue Tag begann mit einem großen Schrecken. Nachdem ich aufgestanden war, streichelte ich wie immer jedem einzelnen Tier in meiner Wohnung über den Kopf und wünschte ihnen allen einen guten Morgen. Sie mochten es, wenn ich mit ihnen sprach. Insbesondere die Hunde Laginha und Oi Pret, die waren meist die ersten, die schwanzwedelnd auf mich zukamen, aber auch die sieben Katzen nahmen von Tag zu Tag ein höheres Tempo auf, um sich ihre Streicheleinheiten abzuholen.


Wie jeden Morgen zählte ich durch. Eins ... zwei ... drei ... vier ... fünf ... Ich kam nur auf eine Anzahl von sechs Katzen. Das Dickerchen hätte von seiner Kapazität her zwar locker zwei Plätze einnehmen können, aber mal Spaß beiseite: Das siebte Samtpfötchen fehlte! Azulin war nicht da. Verwundert suchte ich nach dem Kater, der sonst immer ganz vorne mit dabei war, wenn es um die morgendliche Begrüßung ging. Doch er war nirgends aufzufinden. In jeder Ecke schaute ich nach ihm.
›Vielleicht ist er ja auf der Terrasse‹, dachte ich mir und öffnete die Eingangstür, woraufhin sich das Dummerchen Bic freute und mit nach draußen spazierte. Dort war Azulin aber auch nicht zu finden.
›Vielleicht steht er ja unten vor der Eingangstür‹, hoffte ich etwas ungläubig und ging die Treppen hinunter. Sonst trieb er sich dort oft herum, weil er am liebsten hinaus in die große weite Welt abhauen wollte. Wer nur könnte das besser nachvollziehen als ich! Dass er auch dort nicht war, machte mich unruhig. Sofort ging ich zurück in die Wohnung und sah noch einmal gründlich in jeder Ecke nach. Man konnte Azulin eigentlich gar nicht übersehen! Sein Fell war rot, seine Tatzen weiß, seine Pfotenballen rosa und die Augen himmelblau.
Für einen Moment befürchtete ich, dass er vielleicht über Nacht die Terrasse heruntergefallen war. Hier auf den Kapverden stützten sich die Tiere gerne mit ihren Pfoten am äußersten Rand der Terrassen und Dächer ab, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu bekommen.
Ich hatte an diesem Morgen noch nicht einmal meine Zähne geputzt, da zog ich mich an und ging hinaus auf die Straße, auch wenn es mir unerklärlich war, wie Azulin dorthin hätte abhauen können. Unter jedes geparkte Auto steckte ich meinen Kopf, ich ging die Seitenstraßen auf und ab; nirgends gab es eine Spur von ihm. Dass der blauäugige Kater verschwunden war, löste in mir die schlimmsten Befürchtungen aus. Ein Kater ganz allein inmitten von Mindelo, das dürfte böse ausgehen.
Da ich die Stadt am Mittag verlassen musste, um mich zu der Hundeauffangstation zu begeben, machten sich Silvia und Paolo auf den Weg zu meiner Wohnung, um die Gegend weiter nach Azulin abzusuchen.
Ich war während der Fahrt zu der Auffangstation von Bedenken geplagt. Erst später – durch das viele Laufen mit den Hunden – konnte ich mich etwas ablenken. Die Bewegung und frische Luft waren ein wahres Heilmittel!
Schon jetzt graute es mir davor, wenn ich wieder zurück nach Deutschland musste. Dort war für Reiserückkehrer aus einem Corona-Risikogebiet eine Quarantäne von zehn Tagen angeordnet. Das bedeutete völlige Isolation von der Außenwelt. Nicht einmal ein einziger Spaziergang war gestattet.
Abgesehen von der mir bevorstehenden Gefangenschaft hatte ich zuweilen dasselbe Problem, wie bei jedem meiner Auslandsaufenthalte: Ich wollte nicht nach Hause! Ich wäre viel lieber noch ein paar Wochen gereist, doch das wäre hinsichtlich der weltweiten Pandemie sehr unvernünftig gewesen. Außerdem wollte ich Weihnachten mit meiner Familie verbringen. Im Grunde genommen durfte ich mich sowieso nicht beschweren. Ich war Anfang des Jahres immerhin schon drei Monate mit dem Rucksack unterwegs. Vom Reisen kriege ich aber einfach nie genug! Wenn es nach mir ginge, besäße ich schon längst einen fahrbaren Untersatz, mit dem ich ein Land nach dem anderen abklappern würde. Ich würde einfach hier und da ein paar Monate arbeiten, und dann wieder weiterziehen, so wie es viele freiheitsliebende Menschen auf dieser Welt tun.
Ich bin jedoch nicht allein in meinem Leben. Ich habe einen Mann und eine Familie. Sie lieben mich, und ich liebe sie. Ich kann nicht einfach losziehen und jahrelang fortbleiben. Ein paar Monate werden toleriert, was für meine Liebsten schon schwierig genug ist. Ich bin ihnen für das Erbringen dieser ständigen Opfer sehr dankbar. Ich darf zurück nach Hause kommen und werde dabei von Menschen empfangen, die mich lieben; was gibt es denn Wertvolleres!
Nach einem langen Tag in der Hundeauffangstation beschloss ich am frühen Abend, nicht wie sonst mit den anderen Mitarbeitern zurück nach Mindelo zu fahren, sondern den ganzen Weg bis zu meiner Wohnung zu laufen. Ich war mal wieder voller Gedanken und musste irgendwie meinen Kopf freikriegen. Das alles hier war mir einfach zu viel. Natürlich war ich froh, einen Teil für den Tierschutz beitragen zu können, aber es zehrte ganz schön an meinen Nerven. Anstatt also – wie üblich nach einer Schicht – vor dem Tor der Fabrik im Staub zu sitzen und der Sonne beim Untergehen hinter den Bergen zuzusehen, verabschiedete ich mich von Antonio und Margarida, und lief los. Anderthalb Stunden Fußmarsch wären es von der Auffangstation bis zu meiner Wohnung gewesen. Dass ich diesen auf mich nehmen wollte, passte einem der Straßenhunde, der bei der Auffangstation lebte, allerdings so gar nicht. Sein Name war Marega.
Dass er mein Verlassen des Areals nicht so einfach hinnehmen würde, konnte ich ihm bereits ansehen, als ich mich von dem Eingangstor wegbewegte. Dieser Hund liebte mich; das behaupteten auch die Mitarbeiter immer wieder. Jedes Mal, wenn ich kam, rannte er wie wild auf mich zu, sprang mit seinen Vorderpfoten auf meine Brust und jaulte vor Freude.
Schon als ich die ersten Schritte gegangen war – die Auffangstation hinter mir lassend –, lief Marega neben mir her. Da forderte ich ihn auf, an Ort und Stelle zu bleiben! Für einen Moment tat er das – offenbar unfreiwillig –, nach hundert Metern war dann aber Schluss, da konnte ihn nichts mehr halten. Voller Elan rannte er mir hinterher, woraufhin ich einen Seufzer von mir ließ. Marega war ein so unglaublich süßer Hund! An seiner Schnauze war er leicht rosafarben mit schwarzen Punkten. Sein beiges Fell war schmutzig und im Gesicht hatte er Narben. Dass er mir folgte, war nicht gut.
Zehn Minuten vergingen, in denen mir Marega nicht von der Seite wich, obwohl ich ihn ignorierte. Irgendwann waren zwanzig Minuten um, dann dreißig. Dieser Hund entfernte sich immer mehr von seinem sicheren Zufluchtsort und allmählich wurde die Straße gefährlicher. Ich war schon so weit gelaufen, doch ich entschied mich, wieder umzukehren. Ich konnte es nicht riskieren, dass Marega in der Stadt etwas passierte. Die Art und Weise, wie er mich anhimmelte, als ich schließlich mit ihm redete, raubte mir all meine Energie. Ich wollte nicht, dass mich ein Tier in sein Herz schloss! In neun Tagen würde ich nach Hause fliegen, ohne Marega ...
Als ich zusammen mit ihm zurück in der Auffangstation ankam, rannten auch die anderen Straßenhunde voll Freude auf mich zu. Sie waren glücklich, dass ich zurückgekommen war. Mit Tränen in den Augen, weil ich sie in Deutschland so schrecklich vermissen würde, setzte ich mich zu ihnen auf den Boden. Dabei drückten sie sich an meinen Körper und schleckten mir das Gesicht ab.
Einer von ihnen hatte ein verletztes Bein, das er immerzu anwinkeln musste. Ihn zu streicheln, war mir zu meiner Anfangszeit besonders schwergefallen. Sein Fell war struppig, seine Augen waren verklebt und wenn ich ihn anfasste, berührte ich nur Knochen. Ein weiterer Straßenhund, der in der Klinik von Simabo schon etliche Male am Rücken operiert worden war, hatte an manchen Stellen kein Fell mehr und seine Haut sah katastrophal aus.
Überaus gerührt war ich von einer Hündin, die an diesem Abend zum ersten Mal Vertrauen zu mir fasste. An ihrer Hüfte hatte sie eine offene Wunde, die nur langsam zuwuchs. Täglich brannte die Sonne darauf und Fliegen belagerten die Stelle. Seit Wochen war diese Hündin schon um die Auffangstation herum geschlichen, aber nie näher als bis zum Eingangstor gekommen. In jenem Moment jedoch, als ich mit Marega zurückgekommen war, näherte sie sich mir und stupste sie meine Hand mit ihrer Schnauze an.
Es fiel mir häufig schwer, positive Gedanken zu fassen, wenn ich den Zustand dieser Tiere sah. Wie nur gelang das den anderen Mitarbeitern? Sie schien das alles nicht so mitzunehmen. genügte wohl der Gedanke, dass die Hunde jeden Tag ein paar Happen zu fressen bekamen und sich nicht um das Ausfindigmachen von Wasser sorgen mussten. Das Leben ist aber doch so viel mehr als nur über die Runden kommen!
Eine solche Aussage von sich geben zu können, zeigt einmal mehr, wie verwöhnt ich bin. Das Leben mancher Menschen und Tiere ist sehr wohl davon geprägt, über die Runden zu kommen. Darüber hinausdenken zu können, ist purer Luxus.
Später am Abend, als es schon dunkel war, nahm mich der Pickup-Fahrer Mario mit und setzte mich vor meiner Wohnung ab. Betrübt schlappte ich zu der Eingangstür, wollte gerade meinen Schlüssel aus der Tasche holen, da hörte ich ein Miauen. Vor mir stand auf einmal der ausgebüxte Kater Azulin!
Einen Dankesruf in den Himmel schickend, öffnete ich die Tür, woraufhin er wie wild die Treppen nach oben stürmte. Er rannte in Richtung Küche und schlang das ganze Futter aus seinem Napf herunter. Azulin musste furchtbar hungrig gewesen sein.
Bevor ich Silvia und Paolo über die frohe Neuigkeit informieren konnte, vernahm ich von unten ein »Psss, psss, psss«. Paolo war trotz Dunkelheit noch immer auf der Suche nach dem Kater gewesen. Ich hätte an diesem Abend keine freudigere Nachricht von der Terrasse hinunterrufen können, als die, dass Azulin zurückgekehrt war. Erleichtert gab Paolo von unten einen Freudenruf von sich, kam nach oben geeilt und hielt Azulin sogleich eine Standpauke, die von Herzen kam.
Jetzt, wo ich wusste, dass Azulin nichts passiert war, machte es mich irgendwie glücklich, dass er heute ein kleines Abenteuer in Freiheit erleben durfte. Er war anscheinend wie ich, musste ab und zu einfach mal ausbüxen.







Link zum Kauf des Buches: Thalia

Leseprobe

Karibik

Kapitel: Lebewohl, Haiti!

Während der ruckeligen Mopedfahrt, die sich in Zeitlupe abspielte, blickte ich mich um. Ich schaute, ob ich noch irgendeinen Haitianer sah, mit dem ich während meiner Freiwilligenarbeit Bekanntschaft gemacht hatte, doch Haiti zog nur an mir vorbei. Ich sah, wie sich eine gelähmte Frau kriechend auf dem staubigen Boden fortbewegte, ihr Unterkörper war nackt. Ich sah humpelnde Hunde, die durch ihre Hautkrankheiten blutige Blasen an den Ohren hatten. Ich sah ein Kind hinter einer Mauer weinen. Ich sah aber auch lächelnde Menschen, die mir zuwinkten. Ich sah junge Zicklein, die noch das Privileg hatten, ohne Schnur um den Hals frei herumzuspringen. Ich sah Kinder, die freudig lachten. Haiti ist ein Land der Gegensätze.


Als wir aufgrund des unebenen Bodens Schrittgeschwindigkeit fahren mussten, erblickte ich über die Schulter des Fahrers, wie Baptiste durch eine Gasse lief. Im Vorbeifahren fassten wir uns an die Hände, dann drehte ich mich um und lächelte ihm ein letztes Mal zu.
Schließlich erreichten wir den Grenzübergang. Dieser machte mir keine Angst mehr. Ich fühlte mich nicht länger wie eine Fremde in diesem Land. Dennoch war ich wachsam, hörte genau zu, was die Grenzbeamten wollten. Für Yael und Noam übersetzte ich, was zu tun war. An dieser Stelle verabschiedeten wir uns von Nixon, der uns bis hierhin begleitet hatte.
»Stay safe!« (Passt auf euch auf!), rief er uns zu, bevor sich unsere Wege trennten.

Naher Osten

Kapitel: Im Leben braucht man Mut

Später am Abend – zurück in Yaels und Karims Wohnung in Jerusalem – lernte ich eine Freundin der beiden kennen. Yael erzählte ihr und Karim am Tisch etwas, wovon noch keiner wusste. Ich würde am nächsten Tag über einen Grenzkontrollpunkt nach Palästina reisen, oder in die Westbank, wie man hier sagte. Diesmal aber in den Teil, der für Israelis verboten war.
Yaels Freundin war über dieses Vorhaben schockiert. Es entstand eine hitzige Diskussion über den Nahostkonflikt und darüber, dass es ihrer Ansicht nach gefährlich sei, als nicht arabisch aussehende Person nach Palästina zu reisen. Überhaupt sei es dort gefährlich!
Ich hielt mich raus, folgte der Diskussion aber, zumindest, solange die beiden Englisch sprachen. Nach und nach erhoben sie ihre Stimmen immer mehr, und dann wurde auf Hebräisch weiter diskutiert. Offensichtlich hatten sie große Meinungsverschiedenheiten. Yael war ein sehr weltoffener Mensch, dennoch patriotisch. Ihre Freundin wirkte von außen tough, schien innerlich aber verängstigt. Karim äußerte sich gar nicht zu dem Thema, lenkte das Gespräch am Ende sogar in eine andere Richtung.
In einer Sache waren sich alle drei einig: Keiner hielt es für eine gute Idee, dass ich »da rüber« gehen würde, Yaels Freundin riet mir sogar strengstens davon ab.

[…]

Am nächsten Morgen wachte ich wie gerädert auf. Man konnte an ein paar Fingern abzählen, wie viele Stunden Schlaf ich bekommen hatte. Ich war unruhig, äußerst unruhig …
So sprach ich mit Gott. Wenn wichtige Entscheidungen anstehen, verlasse ich mich immer ganz auf ihn. Ich frage ihn um Rat, und dann passieren entweder Dinge, die mich aufhalten oder pushen.
An jenem Morgen hatte Karim kurz vor mir die Wohnung verlassen. Yael war auch schon weg. Übermüdet, wie ich war, vernahm ich, dass Karim die Eingangstür beim Verlassen abschloss, realisierte aber zu spät, dass ich keinen Schlüssel mehr hatte, und somit eingeschlossen war. Das wusste Karim nicht. Er war davon ausgegangen, dass ich selbst auf- und abschließen könne, doch der Schlüssel lag im Garten unter einem Blumentopf.
Karim war schon einige Sekunden weg, da stürmte ich zur Tür und drückte den Griff nach unten. Doch sie war abgeschlossen, definitiv, und vor den Fenstern waren Gitter. Ich hatte also keine Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen, und in zwanzig Minuten wollte ich los.
Für einige Minuten überlegte ich, ob ich das als Warnung in Bezug auf mein Vorhaben betrachten solle, doch mein Drang, nach Palästina zu fahren, war so groß, dass ich Yael telefonisch darüber informierte, dass ich eingesperrt war. Sie rief daraufhin die Nachbarin an, die darüber im Bilde war, dass der Ersatzschlüssel unter dem Blumentopf versteckt war. Sie schloss von außen auf, ich war frei und konnte los.


Impressionen

Referenzen


Zum Lesen des Artikels auf das Bild klicken

Artikel in der Zeitschrift "Our Cats"
Titel: Housesitting in Montpellier
Teil 1
Ausgabe: 10.2023

Artikel in der Zeitschrift "Our Cats"
Titel: Housesitting in Montpellier
Teil 2
Ausgabe: 11.2023

Artikel in der Zeitschrift "Dog's Avenue"
Titel: Mit dem Fahrrad durch Europa
Ausgabe: 6.2023

Artikel in der Zeitschrift "Dog's Avenue"
Titel: Drei Fragen an Miriam Boettcher
Ausgabe: 1.2024

Buchvorstellung in der Zeitschrift "Freiheit für Tiere"
Titel: Ergreifender Reisebericht: Einsatz für Straßenhunde in Kap Verde
Ausgabe: 1.2024

Artikel in der Zeitschrift "unterwegs…"
Titel: Bäume Pflanzen in Haiti
Ausgabe: 2.2024

Interview für den Nachrichtendienst "good news for you"
Titel: Gutes tun, mutig sein, an seine Grenzen gehen… Reisen ist so vieles.

Text im "Konkursbuch" zum Thema Freiheit
Titel: Reisen bedeutet Freisein
Ausgabe: 59

Kontakt


E-Mail: info@freisein-verlag.de

Instagram: Instagram

Facebook: Facebook